Sowohl in alten Märchen als auch modernen Science-Fiction Filmen wird die Natur häufig als eine mystische Entität und als Summe hochkomplizierter, interagierender und voneinander abhängender Organismen dargestellt. Überraschend viel daran könnte nicht nur Märchen und Fiktion, sondern auch Science sein:
Beispielsweise zeigen mehr und mehr Hinweise, dass Pflanzen in Wäldern über ein gigantisches unterirdisches Netz aus Pilzen verbunden sein könnten, über das sie durchgängig interagieren und Nährstoffe oder Signale austauschen. Überlebenswichtige Moleküle können so von den sogenannten „Mykorrhiza-Pilzen“ nicht nur aus dem Boden aufgenommen und der Pflanze zur Verfügung gestellt werden, sondern auch über den Pilz von Pflanze zu Pflanze transportiert werden. Auch weisen Daten darauf hin, dass verletzte oder schwächere Bäume Nährstoffe von anderen Bäumen erhalten oder Mutterbäume gezielt ihren Keimlingen Nährstoffe über das unterirdische Netz aus Pilzen schicken. Ebenso konnte gezeigt werden, dass nach einem Schädlingsbefall eines Baumes ein weit entfernter zweiter Baum beginnt, Verteidigungsstoffe gegen exakt diese Schädlinge zu produzieren. Hier muss also ein Warnstoff von dem ersten Baum ausgegangen sein, welche über das unterirdische Netz aus Pilzen transportiert werden könnte. Die Interaktionen in einem Wald beschränken sich darüber hinaus nicht auf den Transport von Stoffen über Pilznetzwerke. Pflanzen und Pilze könnten nicht überleben, gäbe es nicht weitere Mikroorganismen im Boden, welche Nährstoffe in verfügbare Formen umwandeln oder Schädlinge abhalten. Die Mikroorganismen könnten wiederum schwer ohne andere Kleinstiere überleben, die herabfallende Blätter zerkleinern und so die Nahrungsgrundlage für die Mikroorganismen produzieren.
Ein weiteres faszinierendes Beispiel für eine Interaktion zwischen Organismen wurde an einem hawaiianischen Zwergtintenfisch beobachtet. Der Tintenfisch scheint nachts an seiner Unterseite zu leuchten, um sich im Licht der Sterne zu tarnen. Jedoch konnte dieses Phänomen nur in Präsenz bestimmter Bakterien festgestellt werden. Das Leuchten ist nur möglich, nachdem Bakterien einer bestimmten Art nach der Geburt des Fisches aufgenommen werden. Sie initiieren eine morphologische Modifizierung des Leuchtorgans, ohne welche keine Leuchtfähigkeit zu Stande kommen könnte. Derselben Bakterienart ist es auch möglich, selbst zu leuchten. Jedoch beginnen die Bakterien erst zu leuchten, wenn sie in einer großen Zahl vorhanden sind. Sie versichern sich davor durch das sogenannte „Quorum sensing“ über einen Austausch an Signalstoffen untereinander darüber, wann ihre Anzahl genügend ist, eine ausreichend sichtbare Leuchtkraft zu produzieren.
Ähnliche naturwissenschaftliche Phänomene treffen auch auf den Menschen zu: Allein im menschlichen Darm leben 100 Billionen Bakterien von 500 verschiedenen Stämmen, die miteinander und mit dem menschlichen Körper auf verblüffende Weise durchgehend interagieren. Es konnte gezeigt werden, dass die Bakterien im Darm neben dem körperlichen Wohlbefinden auch das geistige beeinflussen könnten, also einen direkten Einfluss auf die Gefühle des Menschen, seine Gedanken, Empfindungen, und seine Lebensfähigkeit haben. Wir benötigen Mikroorganismen in unseren Körpern, um uns vor Erregern zu schützen, die Verdauung anzukurbeln, und lebenswichtige Vitamine zu bekommen. Dieser Einfluss der Mikroorganismen könnte jedoch noch viel weitergehen. Experimente an Mäusen zeigen, dass eine bestimmte Zusammensetzung an Mikroorganismen im Darm depressionsähnliche Symptome hervorrufen können und das Bedürfnis nach sozialen Interaktionen ändern.
Diese Beispiele zeigen, dass Interaktionen zwischen unterschiedlichen Organismen das Leben auf der Erde nicht nur beeinflussen, sondern erst möglich machen. Symbiontisches Zusammenleben entstand wohl schon früh in der Evolution. Eine Assoziation zwischen Pilzen und Pflanzen beispielsweise ist älter als die Fähigkeit, Wurzeln auszubilden und bildete die Grundlage für die pflanzliche Landbesiedlung. Die Symbiosen durchliefen Jahrtausende der Ko-Anpassung um ihre Interaktion zu optimieren. Diese strikten Abhängigkeiten unterschiedlicher Organismen werden in der Wissenschaft oft als „Holobiont“ zusammengefasst und sind ein wichtiger Bestandteil aktueller Forschung. Das Handeln des Menschen jedoch kann einen großen Einfluss auf die Holobionten in der Natur haben. Das Künstliche Management von Böden zerstört die natürliche Diversität von Organismen und kann die Pilz Netzwerke zerstören. Ebenso hat die menschliche Einnahme von Antibiotika, die meist unspezifisch auf bakterielle Infektionen wirkt, einen negativen Einfluss auf die hilfreichen und nötigen Bakterien im Darm. Auf der anderen Seite kann der Effekt der Holobionten auch in Zukunft gewinnbringend genutzt werden. In der Landwirtschaft beispielsweise könnte der Boden mit hilfreichen Organismen versetzt werden, um die Zugabe von mineralischem Dünger zu verhindern. Ebenso könnte die medizinische Verabreichung einer intakten Darmbakterien-Kultur helfen, Krankheiten vorzubeugen oder zu heilen.
Das Phänomen des Holobionts lässt sich in seinem Grad an Faszination leicht in fiktionale Erzählungen vom Baum der Seelen in Avatar oder Großmutter Weide aus Pocahontas einreihen. Es steckt also weit mehr märchenhaftes in der Natur der Erde – und in unserem Darm.
Gezeichnet: Valentin Kurbel
Bayreuth, Juli 2023
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