München: Die ästhetischen Möglichkeiten des Wartens füllen das Ja, Mai!
- Wein in den Muscheln
- 30. Juni 2023
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Juli 2023
München: Cuivilléstheater und Haus der Kunst, 13. & 14.05.2023
Festival Ja, Mai!
Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens: Kristina Hammarström, Charles Daniels, Xenia Puskarz Thomas, Liam Bonthron, Sibylle Canonica, Wiebke Mollenhauer, Damian Rebgetz. Musikalische Leitung: Christopher Moulds. Szenische Leitung: Christopher Rüping. Bayerisches Staatsorchester, Monteverdi Continuo Ensemble; Hanjo: Sarah Aristidou, Charlotte Hellekant, Konstantin Krimmel. Musikalische Leitung: Lothar Koenigs; Bühnenleitung: Sidi Larbi Cherkaoui. Eastman Dance Company, Münchener Kammerochester.

Szenenfoto aus Hanjo; ©Bayrische Staatsoper
Mit der zweiten Ausgabe des Festivals Ja, Mai! bekräftigt die Bayerische Staatsoper ihren Willen, die Grenzen der Gattung Oper weiter auszuloten. Es gibt nur wenige Theater in Deutschland, die sich fest vornehmen, mit dem Repertoire zu brechen. Und auch wenn diese bayerische Initiative nur von kurzer Dauer ist – München führt die Regietheaterszene ohne große Zugeständnisse an die Peripherie weiter an – ist es zu begrüßen, dass sie sich als eigenständiges Kapitel in der regulären Spielzeit etabliert hat. Dass man sich dem zeitgenössischen Schaffen, oder überhaupt irgendeiner Art von außerkanonischem Repertoire im Rahmen von „Festivals“ widmet, scheint in der deutschen Szene eine Selbstverständlichkeit geworden zu sein. Dies mag wohl praktische Gründe haben, zeugt aber von der starken Scheu sämtlicher großen Häuser, das konservative Prinzip des Regietheaters in die Krise zu führen. Man fragt sich, wie das sein kann, vor allem wenn man bedenkt, dass es mindestens in Deutschland gerade die großen Häuser sind, die die finanzielle obere Hand haben, und nicht die Festivals oder die freie Szene, wo tatsächlich die meiste, interessantere Beschäftigung mit der Kehrseite des Kanons stattfindet (Bourdieu und sein capital culturel hätten was dazu zu sagen). Wie dem auch sei. Der Erfolg der beiden in dieser Ausgabe des Ja, Mai präsentierten Produktionen Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens und Hanjo lässt auf jeden Fall aufhorchen.
Als erstes ist die Etablierung einer konkreten und kohärenten Linie des Schaffens zu nennen. Schon bei dem in der letzten Saison präsentierten Doppelabend mit Partituren des Komponisten Georg Friedrich Haas war ein Interesse an der Verbindung von zeitgenössischer Musik und Barockmusik zu spüren, das sich nun in die ideologische Unterstützung des Festivals umgewandelt hat. Umgewandelt in jeder Hinsicht, denn unter diesem Dach findet sich nicht nur der Dialog des zeitgenössischen Musiktheaters mit dem Barock, sondern auch der Dialog des zeitgenössischen Musiktheaters mit so vielen anderen Randformen des Genres.
In der Tat teilen die beiden neuen Produktionen diese ideologische Unterstützung, befinden sich aber in völlig unterschiedlichen Koordinaten: Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens ist eine Adaption von Monteverdis Il ritorno d'Ulisse in patria durch den Regisseur Christopher Rüping auf der Grundlage eines Textes der Schriftstellerin Joan Didion, und Hanjo ist eine zeitgenössische Oper im Dialog mit der japanischen Tradition des No-Theaters. Die entscheidendste Geste der Organisatoren, die für den außergewöhnlichen Charakter von Ja, Mai! verantwortlich sind, ist die Einführung eines weiteren kohärenten Elements: ein thematischer Faden, einfach und kraftvoll, der sich durch diese beiden sehr unterschiedlichen Welten zieht und dem Zuschauer die Möglichkeit gibt, sie - sich daran festhaltend- fast nahtlos zu durchqueren.
Dieses Thema ist – modern und antik zugleich – der Verlust und damit das absurde, aber unausweichliche Warten auf das, was nicht wiederkehren wird. In Christopher Rüpings Stück steht Monteverdis Versuch über das berühmteste Warten der Kunstgeschichte, das der Penelope auf Odysseus, im Dialog mit dem bewegenden Zeugnis über den Verlust eines geliebten Menschen in Joan Didions Roman Das Jahr des magischen Denkens (2005). Es ist wirklich ein Dialog; Rüping gelingt es, seine dramaturgische Ausarbeitung des Buches, die er stolz dem Theater von Christoph Marthaler verdankt, in den Ablauf von Monteverdis Oper zu integrieren, aus der er die entscheidenden Momente inszeniert. Das Ergebnis ist ebenso spannend wie anspruchsvoll, denn Rüping schreckt nicht davor zurück, Monteverdis Text mit Sensibilität und dramaturgischer Intelligenz zu amputieren. Zum Gelingen des Experiments tragen die hervorragende Arbeit des Orchesters unter der Leitung von Christopher Moulds sowie die zum Teil sehr jungen Sänger und Schauspieler bei – besonders hervorzuheben ist Xenia Puskarz Thomas, die einen schillernden Melanto darstellt.
Hanjo ist eine geheimnisvolle Oper des Komponisten Toshio Hosokawa, der sich dem langsamen Tempo des japanischen No-Theaters annähern will, indem er mit Texturen und instrumentalen Atmosphären spielt. Das Thema, das dem gleichnamigen No-Theaterstück von Yukio Mishima entnommen ist, handelt ebenfalls vom Warten, allerdings in einer Tonlage, die eher an Beckett als an Homer erinnert. Der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui interpretiert das Stück mit seiner eigenen Körpersprache, indem er die Handlung mit Tänzern teilt, die zu Schatten der Sänger werden (sowohl der Bariton Konstantin Krimmel in der Rolle des Yoshio als auch die Sopranistin Sarah Aristidou als Hanako waren hervorragend). Diese Geste widerspricht natürlich der nüchternen Ästhetik des "No", aber sie ist gerade wegen des Zusammenpralls der ästhetischen Sprachen, den sie provoziert, überzeugend und steht im Einklang mit dem bahnbrechenden Geist des Münchner Festivals.
Gezeichnet: Wein in den Muscheln
Bayreuth, Juni 2023
Kritik zuerst erschienen in: https://www.operaactual.com/critica/las-posibilidades-esteticas-de-la-esperanza-llenan-el-ja-mai/
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