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Schattenhaar

Die Amsel

Der Frankfurter Downtown machte ihm einen günstigen Eindruck. Er hatte ein Archiv besucht in einer Gegend jenseits der Wolkenkratzer, wo die Stadt überschaubar wird, wo plötzlich die optische Illusion ein Ende nimmt und einem bewusst wird, dass man mitten in Europa ist und gerade nicht im überseeischen Glasdschungel. Jetzt lief er zurück Richtung Fluss, an einem klaren Frühlingsmorgen mit dem pulsierenden Grün der Kastanien und einem blauen, blauen, nicht grauen wie immer, sondern wirklich blauen Himmel, und dahinten entsprang aber wieder die eiserne Fata Morgana und es durfte weiter von der Fifth Avenue geträumt werden. Phallus gegen Phallus, dachte er, denn, wie in Manhattan, auch in Frankfurt passiert es peinlicherweise dass die höchsten Gebäude der Vergangenheit nicht mehr die höchsten Gebäude der Gegenwart sind, und ihre Figuren überlappen sich, und ein alter Turm wie aus Holzklötzchen, rot, verhärtet und rau, sieht aus wie das längst überholte Modell des vertikalen Monsters, das ihn von hinten gänzlich verschlingt. Sie sind einander sehr ähnlich, dachte er, ähnlich in ihrer kindlichen, inkongruenten Maskulinität und weil sie immer Engeln, oder Fahnen, oder Kräne, oder Antennen jeglicher Art krönen, als ob es ihnen nicht genügen würde, so weit hoch gelangen zu sein, und würden zeigen wollen, wie es noch höher und immer höher gehen kann.


Er lief durch jenen gezähmten Dschungel, ordentlich, sauber und nur vage an das urbane Laster New Yorks erinnernd, und erreichte den Main nicht wie der, der den East River erreicht, satt mit Dumplings und frittiertem Brot, hinter sich die sympathische, harmlose und vor aller Augen sich abspielende Kriminalität des Chinatowns, nachdem er sich vor dem expressionistischen Block des Manhattan Municipal Building in die dreißiger Jahre hat versetzten lassen – ein komisches Gebäude, das er eigenartigerweise in seinen Erinnerungen nur in Schwarzweiß hervorzurufen vermochte –; sondern friedvoll, in einem Zustand vollkommener geistiger Stille und mit dem angenehmen Gefühl im Körper, die Orientierung nicht verloren zu haben. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er auf beiden Seiten des Flusses zwei Promenaden sah, grün gepolstert und durch Platanen oder Maulbeerbäume flankiert. Er überquerte eine Brücke. Von Seiten Sachsenhausens her bot ihm die Skyline wieder ein angenehmes Profil an. Deutschland ist das kleinere Übel, dachte er zum zigsten Mal, und machte sich auf den Weg Richtung Fluss mit der Absicht, sich auf den grünen Teppich der Promenade niederzulegen, das Lebenswerk der Gänse, die da weiden und scheißen in aeternum mit tierischer Straffreiheit. Er tat es, ohne jemals den auf der gegenüberliegenden Uferseite angehäuften Stahl und Glas aus dem Blick zu verlieren. Es befriedigte ihn, die jenem Haufen innewohnende Ordnung wahrzunehmen: wie eine Gauß-Glocke steigerte sich die Linie der Dächer langsam von links aus, traf ihren Höhepunkt ziemlich genau vor seiner Nase, und ging mit gleichmäßiger Steigung nach rechts wieder runter. Weiter nach links und nach rechts, hier und da, wie außerordentlich regnerische oder trockene Monate auf einer meteorologischen Graphik, oder wie frische Spargelstangen, die überraschend ihre phallische Existenz mitten im Unterwuchs deklarieren, ragten aus dem Häusermeer heraus einzelne Wolkenkratzer. Umgepflanzt aus ihrer natürlichen Umgebung in die Peripherie der Stadt, wo sich die Willkür des Wiederaufbaus gerade nicht in Höhenmetern bemessen ließ, sondern an anderen, durchaus blutigeren Parametern, ganz alleine in der Peripherie, dachte er, erinnerten sie an einsame Grashalme, die auf dem Asphalt, oder Kies, oder Sand der Wege wachsen, verstreut und immer geringer werdend je weiter entfernt sie sich von dem Grünen, aus dem sie herkommen, befinden, und plötzlich tauchte vor seinem Stirnlappen der unbegreifliche Park des Nymphenburger Schlosses auf mit seiner hypnotisierenden Überlappung gartenbaulicher Stile, ein französischer Garten, der zu einem englischen Garten wird (der eigentlich gleich ebenso künstlich ist, oder noch künstlicher, trotz des Eindrucks der Natürlichkeit, den er erwecken soll), denn es ereignet sich auf jenen Zauberkoordinaten genau das gleiche Phänomen: wenn, zur warmen Jahreshälfte, man dem Kiesweg folgt, der jenseits des der Anlage vorstehenden Versaillesquen Arrangements zur sogenannten Pagodenburg führt, eine der unzähligen, aus dem vorübergehenden Eigenwillen etlicher bayrischen Könige, Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen entstandenen Nebenwohnsitze Nymphenburgs, und man vor sich begreift, inwiefern das Feld auf der linken und der Wald auf der rechten Seite zwei unterschiedlichen Universen ausmachen, zwei Untersuchungen des Grüns in entgegengesetzten Texturen, oder des Grünlichen als Begriff in zwei andersartigen Denktraditionen, oder schließlich des farblichen Effekts der Anwesenheit und des Anscheins von der Abwesenheit menschlicher Spur auf einer Landschaft, wird links auf dem Feld, wie ein Fehler in der Matrix, die Flecken von vier, fünf, sechs majestätischen und einsamen Eichen wahrnehmen, die das Versprechen des künstlichen Waldes über seine Grenzen hinaus dehnen, wie abenteuerliche Grashelme auf dem Asphalt, oder wie spontane Wolkenkratzer, die ihre billige Omnipotenz über die Peripherie einer europäischen Großstadt zeigen.


Er hatte seine Sachen auf dem Rasen abgelegt, und jetzt lag er unbekümmert unter der gutmütigen Sonne des Wonnemonats. Das Gefühl, sich in einem Ort zu befinden, der trotz der Menge an Anreizen vollkommen freundlich und respektvoll zu seinen Sinnen war – ein Gefühl, das er in seinem Heimatland noch nie erfahren hatte –, erweckte in ihm einen ruhigen Durst, verständlich und eindeutig, Wasserdurst nämlich und nichts mehr, fremd jenem anderen Durst, der ihn häufig plagte und den er von der sexuellen Lust nicht immer unterscheiden konnte. Er trank aus einer Plastikflasche, indem er die Augen zumachte und den Kopf nach hinten warf. Als sein Instinkt befriedigt war, öffnete er die Augen und fand er sich genau vor dem gleichen Panorama, das er vor einem Moment zergliedert hatte. Auf dem Main, ein mächtiger und gleichzeitig zahmer Fluss, ließen Mitglieder der hundertjährigen Rudergemeinschaft Sachsenhausen ihre Wasserfahrzeuge schlicht und diszipliniert gleiten. Alles um ihn herum hatte einen affirmativen, korrekten Charakter. „In diesem Ort“, sagte er sich, indem er einen kleinen Monolog anfing, „wird die Hoffnung, doch noch nicht vom Weg abgekommen zu sein, wieder lebendig. Diese Wirklichkeit, die mich umgibt, hat Schlagkraft, und es ist offensichtlich, dass die Wahrheit in ihr einen Platz findet. Diese Wirklichkeit…” Der bräunliche Filter der Sonnenbrille konnte gegen die Behauptung, die ihm aus den Knochen entsprang, nichts einwenden: “Diese Wirklichkeit ist ohne Frage die Wirklichkeit”. Er war kein Poet, auch kein Philosoph, er war kaum ein Versuch von einem Forscher mit grundsätzlichen Problemen, eine Idee richtig zu formulieren, mit einer grauenvollen Angst, besser gesagt, alle seine Ideen falsch zu formulieren, aber von Zeit zu Zeit bot ihm sein glückliches Gehirn chemische Reisen höchster Spannung an durch die schwammige, spinnennetzartige Dicke des Gedächtnisses. Welche Freude, nach einer solchen Reise, auf dem gleichen Weg oder vielleicht durch eine unerwartete Abkürzung wieder zurück zum Licht der Phänomene gelangt zu sein! Und welche Freude, in den Phänomenen eben so was wie eine Raststätte zu finden! Es erfüllte ihn mit unendlichem Glück, und er betrieb weiter Photosynthese, wie die Platanen, oder die Maulbeerbäume, es war nicht wichtig, dachte er, er konnte es sich leisten, daran zu zweifeln, ob jene Bäume Platanen oder Maulbeerbäume waren, denn sie existierten jedenfalls, sie existierten sicherlich, wie er, der auch existierte.


Vielleicht aufgrund der gesammelten Freude und Sicherheit verwirrte ihn erstmal das, was danach geschah, nicht. Später würde er zurückblicken und sich schämen, sein eigenes unbekümmertes Ich jener Zeit konfrontieren zu müssen. Sein krankes, aufgeblasenes Herz würde pochen bei der Erinnerung an sich selber, noch nicht aufgewacht aus dem Seelenschlaf, vor dem kosmischen Ereignis, das für seinen Ruin verantwortlich war. Es war tatsächlich als er sich noch ausruhte auf dem grünen Teppich, wirklich und endlich unbesorgt um seine Person, dass sich eine Amsel, die Königin der deutschen Gärten, ihm von links aus näherte. Das winzige Gras mit dem Schnabel auf der Suche nach einer Beute aufwühlend, ohne jemals den Blick auf ihre Umgebung zu verlieren, wie im Dschungel oder in der afrikanischen Savanne, dachte er, brachte das Tier seine stille Existenz auf ihn zu. Wieder entglitt ihm ein Lächeln. Er setzte seine Sonnenbrille ab, um jene gewöhnliche Amsel besser beobachten zu können, immer noch vertieft im Segen des Mittags. Die Amsel, wie die Taube, hat keine Angst vor dem Menschen, und tritt immer näher auf dem Gras bis sie eine abrupte Bewegung verscheucht, denn ach, im Gegensatz zu dem Menschen ist sie gefangen in ihren Instinkten. „Alle Lebewesen sind gefangen in ihren Instinkten”, lachte ihm sanft die Amsel. „Inklusive dem Menschen”. Darauffolgend, nachdem sie ihm eine Grimasse schnitt, die spottend gewirkt hätte, wenn sie menschlich gewesen wäre, flog sie ab und verschwand über den Main.


Das erste, was er dachte, war genau das: wenn er menschlich gewesen wäre, hätte jener Blick spöttisch gewirkt. In erster Linie fragte er sich gar nicht, erinnerte er sich nach einiger Zeit, wie es nur möglich war, dass ihn die Amsel mit menschlicher Stimme angesprochen hatte. Er grinste einfach halb ironisch vor dem spöttischen Blick des Vogels. Einige Sekunde später aber öffnete sich vor ihm solch ein tiefer Abgrund, dass der Orientierungssinn, der ihn den ganzen Morgen so verlässlich begleitet hatte, ihn mit einem Schlag verließ und alles um ihn herum zu spinnen und zu spinnen begann. Es gab keinen Zweifel. Der Vogel war herangetreten, hatte den Schnabel aufgemacht und jene weisen Wörter mit sentenziöser Stimme ausgesprochen: „Alle Lebewesen sind gefangen in ihren Instinkten. Inklusive dem Menschen”. Und dann war er weggeflogen und hatte ihn mit dieser krassen Übelkeit da zurückgelassen auf dem Ufer des Mains. Viele Male hatte er mit offenen Augen von der Situation, in der er sich nun befand, geträumt: etwas an der herumliegenden Wirklichkeit, die die Wirklichkeit war, es gab absolut keinen Zweifel daran, dass das die Wirklichkeit war, scheiterte, verhielt sich merkwürdig, es hatte keinen Platz in der Kohärenz des Realen, und das stellte nicht nur die eigene Existenz der Wirklichkeit infrage, sondern auch seine Person, seine Zukunftsperspektiven und sein Glück. Und die Tatsache realisieren zu müssen, dass er sich in einem Traum befand, quälte ihn übermäßig. Wer weiß, was für ein Trauma oder was für eine Verletzung er mit dieser Vorstellung verarbeitete – denn, hatte er viele Male gedacht, indem er über sich hinausschaute, sich so was vorzustellen war eindeutig Symptom einer ursprünglichen Angst. Auf jeden Fall war sie immer eine Vorstellung, sie stimmte nie mit den Tatsachen überein, sondern ahnte sie voraus. Das, was ihm damals begegnete, und an dieses Gefühl würde er sich auch später erinnern, was er damals fühlte ergab sich nicht daraus, dass sein Hirn etwas voraussah oder überschrieb oder antizipierte. Der Ekel, den er empfand, war anderer Art, denn er war nicht die körperliche Reaktion auf die Früchte seiner unkontrollierten Einbildungskraft, sondern auf eine Begebenheit, ein konkretes Phänomen, das sich unter der Sonne ergeben hatte und das vor allem grundlegend banal war. Er hätte sich nie vorstellen können, dass der Fehler in der Matrix etwas in der Art sein könnte. Er hätte sich nie vorstellen können, dass ihm plötzlich alles so verrottet und wackelig vorkommen würde, weil eine scheiß Amsel mit ihm gesprochen hatte wie ein normaler Mensch.


Er stand auf, staubte sich ab und lief bis zum Fluss. Keine Spur von der Amsel. Sie war über der bräunlichen Oberfläche des Mains verschwunden, und wer weiß, wo sie jetzt weilte. Natürlich dachte er zunächst, dass er träumte. Aber er hatte nie wirklich geträumt, dass er träumte. Er hatte nur Angst gehabt, davon zu träumen. Trotzdem tat er alles mögliche um aufzuwachen, für den Fall, dass er wirklich schlief: er kniff sich in unterschiedliche Stellen seines Körpers, er schlug sich selber überall, schüttelte sehr lange den Kopf in alle Richtungen, versuchte, sich selber auf tausend unterschiedliche Weisen zu verletzen, wünschte letztendlich, wünschte sich sehr stark, indem er die Augen zukniff, aufzuwachen. Aber er wachte nicht auf. Er wachte nicht auf, weil er schon wach war, und jene Tatsache machte ihm das Leben unmöglich: eine Amsel hatte mit menschlicher Stimme zu ihm gesprochen. Nachher, da einige Minuten schon vergangen waren, dachte er, dass er es sich nur eingebildet hatte, dass es tatsächlich, da er sich noch im Schlummer befand, einfach nur eine Einbildung gewesen war. Aber es waren nicht so viele Minuten vergangen, und es war eine reale Erinnerung. Nicht wie diese Erinnerung, die er hatte, mit seiner Oma einmal gesehen zu haben, wie ein Baby aus dem Kinderwagen, wo seine Eltern ihn transportierten, auf die bleierne Treppe eines Parkplatzes herunterfiel, solch eine urzeitliche, grausame und konkrete Erinnerung, dass sein Gedächtnis sie irgendwo tief ins Unterbewusstsein verbannt hatte und jetzt wusste er nicht genau, ob das Baby wirklich heruntergefallen war oder nicht. Nein, nein, die Amsel hatte gesprochen. Es musste angenommen werden, dass die Amsel eine spöttische Miene gemacht hatte, hatte gewusst, was ihm gerade durch den Kopf ging, und hatte ihn mit einer plausiblen, überzeugenden Replik angesprochen. Und dann überkam ihm ein Gefühl wie von Euphorie und er dachte, dass er davon erzählen musste. Er musste es allen erzählen, musste zurück nach Hause gehen, jene Forschungsreise, die sowieso nicht so wichtig war, abbrechen, und allen davon erzählen, was ihm begegnet war an dem Ufer des Mains.


Als er zuhause angekommen war, nach einer langen Zugreise, die er damit verbrachte, alles, was sich an jenem Morgen ereignet hatte, in einem Notizbuch niederzuschreiben (die Wolkenkratzer, die Phalli, Nymphenburg, die Grashelme, die Gänse, die Ruderer, die Amsel), fing er an, das Abendessen vorzubereiten, und wartete darauf, dass seine Frau und sein Sohn nach Hause kamen. Der Eckel hatte ihn nicht so richtig verlassen, aber die momentane Euphorie, die er über die Erkenntnis gespürt hatte, dass er es kommunizieren konnte, dass er die Pflicht hatte, es zu kommunizieren, hatte ihn ein bisschen beruhigt. Auch die bloße Geste, es auf Papier festzuhalten, hatte ihn entspannt, als ob plötzlich die Tatsache an Konsistenz und Wahrhaftigkeit gewonnen hätte, dadurch, dass sie nicht mehr nur seinem Gedächtnis innewohnte, sondern Teil der Gegenstandswelt geworden war. Während er die Spiegeleier zubereitete, indem er das Eiweiß mit heißem Öl immer wieder begoss, guckte er nach hinten und heftete die Augen auf die Tasche, die das Notizbuch enthielt, in dem seine Begegnung mit der Amsel festgehalten war. Aber er musste schnell weggucken und sich wieder den Eiern widmen, denn die Tasche, so schien es ihm, blähte sich immer schrecklicher auf, sobald er sie anschaute, und drohte zu explodieren. Er stellte sich den Wahnsinn von Druckfarbe und Papierstückchen vor, der den ganzen Raum füllen würde, würde die Tasche tatsächlich zerplatzen. Der Eckel wurde kurz intensiver. Dann aber sprang die Tür auf. Seine Frau und sein Sohn traten ein, und plötzlich fühlte er sich besser, erleichtert, doch nicht allein zu sein auf der Welt, froh darüber, mit den Seinigen seine Existenz zu teilen. Ein kleines Kind, drei oder vier Jahre alt, eilte zum Tisch und setzte sich aufrecht auf seinen Kinderstuhl. Sie hing noch die Jacken fertig an die Wand, bevor sie zu ihm ging, ihn schnell und routinemäßig küsste und sich zu ihrem Sohn setzte. Das Abendessen war nun so weit. Sie aßen schweigend, wie immer. „Wie war‘s im Archiv?“ „Gut, interessant, wie immer, aber alles ein bisschen einsam und desolat, wie immer“, sagte er ehrlich, es war ehrlich was er dachte über seinen Besuch im Archiv. Der gut erzogene Sohn aß sein Essen auf und sagte: „Heute Märchen Papa? Heute Märchen!“ Sie warf einen lächelnden Blick auf ihn zu und antwortete dann selbst: „Ja, heute ist der Papa dran mit Märchen. Oder Papa?“ Es war alles sehr geregelt, sie hatten eine sehr geregelte Routine aufgebaut, dachte er, aß seinerseits auch auf, wischte sich das Maul ab, räumte die Teller auf, und dann nahm er seinen Sohn auf den Arm und setzte sich aufs Sofa mit ihm. Sie folgte ihnen und saß auf der entgegengesetzten Ecke des Sofas, mit jenem halben Lächeln noch im Mund und dem Kopf nach hinten gelegt. „Es war einmal ein kleiner Junge, der in der Nähe eines seeeehr weiten und gefährlichen Flusses wohnte. Der Junge hieß mund und hatte sehr viele Freunde, alle sehr unterschiedlich, aber vor allem hatte er einen mit dem er immer spielte, der ihm sehr treu war. Weißt du was für einen Freund das war? Das war kein normales Kind wie die anderen Kinder… Es war eine Amsel. Weißt du, was eine Amsel ist?“ „Eine Amseeeel“, wiederholte das Kind. Sie lachte. „Ja, eine Amsel. Ein Vogel“. Ein Blick wie von Ungläubigkeit und dann ein großes Lächeln. „Er hatte einen Freund, der ein Vogel war?“ „Ja, eine Amsel! Und einmal, als es sehr viel regnete, überflutete das Wasser das Haus wo mund wohnte und alles begann zu schweben und zu schweben auf dem Fluss und mund konnte sich nicht wehren und ging stromabwärts… Und weißt du was danach geschah?“ „Die Amseeeel!“ „Genau, die Amsel! Die Freundin Amsel sah mund da im Fluss und flog zu ihm, um ihm zu helfen. Und sie sagte: „Schnell, mund, nimm doch diesen Zweig – denn sie trug einen Zweig hier am Schnabel – und schwimme zum Ufer!“ Und das tat mund. Und so konnte er sich retten, dank seiner Freundin der Amsel, die ihn abgeholt hatte aus der Mitte des Flusses.“ „Und hat er nicht Danke nachher gesagt?“ „Natürlich!“, sagte er, indem er ihn sanft umarmte, jenen Sohn den er hatte, so fortgeschritten in allem und so gut erzogen. Das Kind erzählte die Geschichte fertig, wie üblich: „Und dann sagte die Amsel: du musst gar nicht Danke sagen, ich bin deine Freundin!“ „Genau so! Und dann zwinkerte sie ihm zu und flog zu ihrem Nest, weil der Fluss wieder leise und still geworden war und mund konnte zurück nachhause…“


Er war nie gut darin gewesen, Geschichten zu erzählen. Er bewunderte die Menschen, die Geschichten erzählen konnten, die sich sicher fühlten in der Fiktion, in der Verkettung fiktiver Ereignisse, in der Kette von Ursachen und Wirkungen, der sie aufs Genaueste folgen konnten bis zu einem befriedigenden Ende. Ihm entgingen grundsätzlich Argument und Handlung, und jetzt hatte er einen Sohn und musste ihm jeden Abend Märchen vortragen und es war immer ein sehr peinlicher Moment. An jenem konkreten Abend aber war es anders gewesen. Während er jene hochgradig billige Geschichte von der Amsel und der Überflutung erzählte, hatte er sich sicher gefühlt, vielleicht genau so sicher, dachte er, während er den Kleinen ins Bett legte, wie jene von ihm bestaunten Menschen sich sicher fühlten in der labyrinthischen Zufälligkeit der Märchen, Legenden und Mythen. Aber der Grund, wieso er sich sicher gefühlt hatte, war genau das Gegenteil. Es war nicht die Freiheit – illusorisch, sagte er sich immer, die angebliche Freiheit der Fiktion ist eine vollends naive, falsche und illusorische Freiheit – die damit einhergehen soll, sich einzulassen auf eine beliebige Kette von Ursachen und Wirkungen, die ohne jegliches Fundament außer dem eigenen Gesetz der Ursache und Wirkung ist, sondern mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen gestanden zu haben: der unanfechtbare Fakt, dass es sich, bei seiner unzumutbaren und absurden Geschichte, die er eben erfunden hatte, wie er es jeden zweiten Abend halb beschämt machte, eigentlich um etwas handelte, was tief in der Dimension des Realen wurzelte. Plötzlich stand er wieder vor dem Abgrund, und es schwindelte ihm wieder. Vorsichtig schloss er die Kinderzimmertür und ging zu seinem Zimmer, wo seine Frau im weichen Licht des Tischlämpchens lesend auf ihn wartete. Während er sich auszog, fühlte er sein pochendes Herz in der Brust. Er hatte Eile, jenen Vorfall aus sich herauszuschaffen. Er fühlte den Druck der Pflicht auf der Haut, fühlte, dachte er auf einmal, dass er etwas zu erzählen hatte, und dass er der einzige Mensch war, wirklich der einzige, der darauf einen Anspruch erheben konnte, es zu erzählen. Es handelte sich dabei um ein körperliches Gefühl, sehr ähnlich wie das, das er von jeher gehabt hatte, auch als Kind schon, wenn es in der Runde um irgendein Thema ging und er auf dem Gebiet eine gewisse Expertise nachweisen konnte: plötzlich schaltete sich in seinem Innern ein undeutliches Licht ein und er sagte sich, dass seine Meinung in Betracht gezogen werden musste, ja, dass es doch nicht sein konnte, dass die Rede von genau jenem Thema war und dass seine Meinung und sein Wissen diesbezüglich überhaupt nicht anerkannt wurden. An jenem stillen Frühlingsabend war keiner so unverschämt gewesen, über ein Thema zu reden, das ihm zugeschrieben worden war, aber die Dringlichkeit, die er spürte, dachte er, es endlich anzusprechen, kannte er schon, war eigenartigerweise exakt jene Dringlichkeit, die ihn in solchen Situationen so oft beunruhigt hatte. Er legte sich aufgeregt hin, mit der Absicht, sich gleich zu erklären. „Sieglinde…“, fing er an. Aber er kam sich selber so aufgesetzt und unecht vor, dass er sich unterbrechen musste. „…Wie fandst du das Märchen heute?“ Sie lachte und ließ das Buch, das sie las, auf ihrem Schoß liegen. Noch halb lachend: „Gut, ein bisschen dumm, wie immer, aber gut. Er liebt diese Geschichten so sehr, ich weiß nicht wie du das machst, aber bist richtig erfolgreich“. Jetzt lächelte er, indem er auf sie komisch herablassend guckte. „Ich sage es dir, weil es heute anders war“. Sie hörte mit dem Lesen endgültig auf. „Das Märchen heute war nach einer wahren Begebenheit. Das mit der Amsel ist tatsächlich passiert“. Eine ungemütliche Pause. Der Ekel kam zurück, diesmal stärker denn je, und vollends unerwartet, denn er hatte sich selber wirklich davon überzeugt, dass er verschwinden würde, sobald er es erzählte. „Wie es ist tatsächlich passiert?“ „Es ist tatsächlich passiert, Sieglinde. Ich war heute da, in Frankfurt, nach dem Besuch im Archiv, ich ruhte mich aus am Flussufer, und plötzlich ist eine Amsel zu mir geflogen und hat mit mir mit menschlicher Stimme gesprochen“. Eine längere Pause und jener Ekel, der einfach nicht mehr wegging. Selbstverständlich nahm sie ihn nicht ernst und lachte einfach laut. Indem sie ihm den Bart streichelte, sagte sie: „Und sie hat dir auch gesagt, dass sie dir hilft, und dass du keine Angst zu haben brauchst? Und was noch?“ Jetzt umarmte sie ihn und suchte seine Augen, spielerisch, mit einem breiten, sanften Lachen im Gesicht. „Nein, das nicht. Sie hat gesagt: „Alle Lebewesen sind gefangen in ihren Instinkten. Inklusive dem Menschen“. Wirklich, Sieglinde, das ist mir passiert. Eine Amsel hat zu mir gesprochen wie ein normaler Mensch, hat mich korrigiert, sozusagen, und dann ist sie weggeflogen. Es war so abartig, ich weiß wirklich nicht was ich jetzt damit machen soll, den ganzen Tag versuche ich es nachzuvollziehen und es geht mir so schlecht dabei.“ Eine noch längere Pause. Sie nahm Abstand. Momentan war es, als ob sich in ihrem Blick ein Fenster von Gläubigkeit eröffnen würde, aber dann kam das liebevolle Lächeln zurück. Sie sagte: „Komm, wir gehen schlafen. Du bist sehr müde, dieses ganze Hin und Her wird dein Ende sein.“ Sie schaltete das Licht aus, legte sich hin und umarmte ihn von hinten. Mit dem Kopf auf dem Kissen hatte er noch Zeit zu denken, dass sein Versuch völlig gescheitert war, dass selbstverständlich, selbstverständlich kein Mensch ihm glauben würde, er konnte es allen erzählen und es in die Welt hinausschreien, wenn er möchte, kein Mensch würde es ihm glauben. Und vor ihm wurde jener unermessliche Abgrund noch größer. Die Erde unter seinen Füssen rutschte hinweg, und während er fühlte, wie er leicht herabfiel, immer tiefer und tiefer, und wie eine unendliche Dunkelheit alles durchtränkte, schlief er endlich ein.


Jene Nacht träumte er davon, dass er mit dem Zug reiste. Unbegreiflicherweise rollten die Wagen nicht über den Boden, sondern sie schwebten über ein türkisgraue Wasser, bewegt, aber nicht durch Seegang, sondern durch kurze, kantige Wellen. Am Horizont wurde die türkisgraue Farbe gleichzeitig blass und glänzend, und verwandelte sich in einen weißen Morgenhimmel, entzündet wie ein elektrisches Licht über dem Gewässer. Genauer hinguckend entdeckte man, ganz rechts durch das schmutzige Fenster des Wagens, die beigen Außenwände einiger Häuser, völlig unpassend in der Mitte jener flüssigen Wüste. Es war fast wie eine Fata Morgana. Aber nein: der Zug bremste ab und gelangte zu einem Bahnhof. Vor ihm – denn er war ausgestiegen, und jetzt lief er auf einem Marmorboden – erstreckte sich eine Stadt. Mehrere morgenländisch anmutende Fassaden beugten sich über das Türkisgrau des Wassers. Ihr elfenbeinfarbenes Weiß stand in direktem Gegensatz zum elektrischen Licht des Hintergrunds, das nicht erlöscht war, sondern die Linie des Horizonts vor lauter Sättigung verschwimmen ließ. Er lief weiter auf dem Marmor, denn er wollte die Kurve, die die Reihe der Fassaden, der Verzierungen, der Spiralsäule nach rechts zeichnete, besser nachvollziehen. Es schien ihm aber, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte, der viel weiter reichte, als er gedacht hatte, als ob er gerade den Trick einer optischen Täuschung durchschaut hätte, dass es egal war, dass die Kurve wahrscheinlich kein Ende nahm. Ein unausstehlicher Fischgeruch stieg ihm in die Nase. Bis zur Nasenhöhe nämlich erhob sich ein fauler Nebel, schwefelfarben, dachte er im Traum, aber es roch nicht nach Schwefel, sondern nach verfaulendem Fisch. Er ging weiter geradeaus, um zu gucken, was sich hinter den Fassaden versteckte. Hinter den Fassaden war nichts, nur ein Labyrinth aus Marmorstegen über den kantigen, türkisgrauen Wellen. Plötzlich vernahm er etwas, das klang wie Schreie: viele Kinder jedes beliebigen Alters tauchten überall auf, schreiend und miteinander laut plaudernd, mit Schultaschen auf den Rücken, und verfolgten ihn durch das Marmorlabyrinth. Aber sie kannten den Weg übers Wasser viel besser als er, sodass es bald nicht mehr klar war, ob die Kinder ihn verfolgten oder er die Kinder. Auf einmal gruppierten sie sich um und traten, ohne aufzuhören Lärm zu machen, durch eine riesige Marmortür in einen Renaissancepalast ein, der ihre Schule zu sein schien. Er beobachtete sie höchst neugierig. Darauffolgend lief er weiter auf dem Marmorsteg, der parallel zur Fassade des Palastes ging, sowie zu einem Kanal, zu dem das Wasser sich geformt hatte, ein langer, langer Kanal, der, im Gegensatz zu allen anderen Kanälen, die er bis dahin im Traum gesehen hatte, nirgendwohin schwenkte, sondern in die offene See mündete. Am Ende des Kanals verdeckte eine große eiserne Tür die Sicht auf die äußere Landschaft. Rechts vom Kanal aber war ein hochgelegenes, kleineres Türchen zu sehen, das aus dünnen Eisenstangen bestand. Es versprach eine gute Perspektive. Er steuerte darauf zu. Das, was er hindurch sah, versetzte ihn in einen Zustand tiefster Gelassenheit. Das Wasser war dasselbe, dieselben spitzen, türkisgrauen Wellen. Nicht ganz weit entfernt von der Stadt aber, und parallel zu ihr, direkt vor der unendlichen Fassadenkurve und dem Marmorsteglabyrinth, dehnte sich eine Zypressenlinie aus, grün, grün, ein Grün nach dem anderen wie ein Fest des Grünen, jede einzelne Zypresse farblich und förmlich besonders, aber alle gleich in der Übertragung derselben furchtbaren Botschaft. Er sah, zwischen den ehrwürdigen Bäumen, ein großes, erdfarbenes Tor, und während er sich selber sagte, dass das nichts anderes als ein Friedhof sein konnte, verwandelte sich plötzlich alles um ihn herum. Er fand sich dieses Mal in der Mitte eines Platzes, aus Marmor gefertigt, so weiß, dass er erblindete. Vor ihm ragte eine prächtige barocke Kirche heraus. Auf der rechten Seite führte eine weite Freitreppe mit kaum vernehmbarer Steigung hinunter zu einer edlen Bootsanlegestelle, ebenfalls aus Marmor, die markiert war durch zwei alleine auf dem Wasser stehende Säulen, beide voll graviert mit unverständlichen Zeichen. Das türkisgraue Wasser badete behutsam eine riesige Steinplatte, die auf unmerkliche Weise außen im Wasser versank. Er wendete den Kopf. Links von der Kirche, auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, entdeckte er einen Kanal, enger als der neben der Renaissanceschule. Ein winziges Bogenbrückchen, von einer ästhetischen Konsistenz, die über jedes Verstandesvermögen hinaus ging, führte von dem Marmorplatz, so schien es ihm, hinter die gelbe und weiße Fassade am anderen Ufer. Er fühlte sich völlig überstimuliert, aber dabei glücklich, zuversichtlich. Es fiel ihm nicht schwer, sich der Unmöglichkeit, die Wichtigkeit oder die Bedeutung jener architektonischen Anordnung – die er jedenfalls erahnte – wirklich wahrzunehmen, auszuliefern. Und dann tauchten, von der Rückseite der Kirche langsam hergefahren, wie Filmcredits, folgende Buchstaben auf, gigantisch und golden, wie aus Blattgold: THE GLORY OF THE DAY THAT BROKE UPON ME IN THAT DREAM. Und ohne dass er Zeit gehabt hätte, sie zu entziffern, wachte er auf.


Es war wieder ein glänzender Frühlingsmorgen. Die weißen Vorhänge filtrierten die Sonnenstrahlen, sodass ein kahles, sanftmütiges Licht in das Zimmer hineinprojiziert wurde. Wie jeden Morgen hatte seine Frau das Haus schon verlassen, ohne ihn zu wecken. Er richtete sich auf und wischte sich durch das Gesicht mit beiden Händen. Bis dahin hatte ihn der Kater nach dem langen Schlaf vor der Wahrheit geschützt, doch als er sich selber wahrnahm, wie er aufrecht auf dem Bett saß, kamen ihm die Begebenheiten des vorangegangenen Tages wieder in Erinnerung. Aus der Tiefe seines Brustkorbs steigend fühlte er schon wieder jenes schlechte Omen in Form eines hartnäckigen Ekels. Um sich zu vergewissern, dass ihn sein immer noch vom verrottenden, schwefelfarbenen und nach Fisch riechenden Nebel umwabertes Gehirn nicht täuschte, ging er zur Küche und suchte nach dem Notizbuch in seiner Tasche. In der Tat: es stand da mit blauer Tinte geschrieben. Er las die Aufzeichnung jenes verblüffenden Morgens wieder, jedes Koma, jeden Punkt, jeden Zeilensprung. Als er überzeugt war von der Unbestreitbarkeit der Sache – bereit, sagte er sich, den Hindernislauf, zu dem seine Tage geworden waren, von neuem anzufangen –, ging er unter die Dusche. Unter Wasser sah er davon ab, in die Universität zu fahren. Er würde sich irgendeine Ausrede ausdenken, und würde die verpasste Stunde mit den Studenten später im Semester nachholen. Die blaue Tinte tauchte vor ihm in ihrer ganzen Grausamkeit wieder auf. Und er beschloss, mit einem äußerst seltsamen Gefühl im Körper, geduscht, sauber, aber gleichzeitig schwitzend wie ein Schwein, dass er es nicht dabei belassen konnte, dass er weiter versuchen musste, das Ereignis zu kommunizieren. Indem er seine alltäglichen und professionellen Pflichten endgültig vergaß, in der Überzeugung, dass das, was er erlebt hatte, ihn von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sozusagen erlöste, mindestens bis alles geklärt wurde, rief er seinen Freund D. an, einen namhaften Biologen, der an derselben Universität unterrichtete. Er traf ihn in einem Café in der Innenstadt. „D.“, sagte er, indem er mit einem Zuckertütchen spielte, „ich habe ein ziemlich komisches Anliegen, aber ich glaube, es wird dich interessieren. Du bist die erste Person an die ich gedacht habe…“ Er unterbrach sich. Er schaute aus dem sauberen Fenster und sah den frühlingshaften Tag draußen, durchsichtig und heiter, und es ergriff ihn die gleiche Scham, die er die Nacht davor gespürt hatte, bevor er es seiner Frau erzählt hatte. Er ließ den Zucker liegen. „Ich hör zu“, sagte D. „Es gibt ja bestimmte Vogelarten, die Laute nachmachen können, oder?“ „Ja, viele Papageienarten, zum Beispiel. Sie können sogar die menschliche Stimme nachahmen“. „Nur Papageien?“ „Nein, nein, es gibt richtig viele Vögel auf der Erde, die der Familie der Papageien sind für diese Eigenschaft besonders bekannt, aber viele andere Arten können Laute imitieren. Manchmal ist es Teil ihres Liebesspiels, manchmal weiß man nicht wirklich, wieso sie das machen. Es könnte sein, dass sie es nur wegen des Spaßes tun.“ „Und Amseln?“ „Amseln?“ „Ja, eine normale Amsel, wie die, die in Gärten und Parks so rumlaufen. Können sie sprechen?“ Schweigen trat ein. Er dachte, aufgeregt, dass der entscheidende Moment gekommen war, der Moment der Wissenschaft, der Moment, wo die einzige Instanz, die ermächtigt war, über seinen Fall zu entscheiden, ihr Urteil fällen würde. D. lachte einfach. „Es würde mich ziemlich überraschen, wenn eine Amsel sprechen würde. Manchmal singen sie Laute nach, wie zum Beispiel Polizeisirenen oder Handyklingeltöne. Aber sprechen… ist was anders.“


Er hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Unbewusst aber hatte er den Moment, sich mit der Unmöglichkeit dessen zu konfrontieren, das, was er erlebt hatte, zu erklären, weiter und weiter verschoben. Er hatte dummerweise auf die Möglichkeit vertraut, dass vielleicht nichts so war, wie es schien, er hatte dummerweise, unvernünftigerweise, dachte er, auf die befreiende Möglichkeit der Fiktion vertrauen. Jetzt stieß er auf jene Unmöglichkeit, und es ergriff ihn, vor dem Kaffee, den er nicht getrunken hatte, ein Schauer, zusammen mit einem unerträglichen Kribbeln in allen Gliedern. „Aber…“, erwiderte er, „stell dir vor… stell dir vor es passiert. Stell dir vor ich habe dich nur deswegen angerufen, um dir zu erzählen, dass ich gehört habe wie eine Amsel gesprochen hat. Was würdest du denken? Als Wissenschaftler, meine ich, als Experte. Wie würdest du reagieren?“ Das Gesicht D.s begann etwas wie Beunruhigung auszudrücken. „Wie sprechen? Manche Vögel machen die menschliche Stimme nach, aber das heißt nicht, dass sie sprechen können.“ „Wirklich sprechen, wie du und ich, mit menschlicher Stimme. Einen Satz artikulieren, einen Gesprächspartner ansprechen.“ Er wagte es nicht, das mit dem Gedankenlesen zu erwähnen. Die Beunruhigung, oder es war eher Sorge, die Sorge, dachte er, hatte sich im Gesicht D.s endgültig installiert. „Wenn das beobachtet werden würde… etwas in der Art würde alles, was wir über die Natur wissen, in Frage stellen. Die Wissenschaft könnte es nicht erklären.“ Der Ekel, der Abgrund, der Schweiß, der Schauer. Das verzerrte Gesicht D.s sagte halb misstrauisch halb bewundernd: „Was versuchst du mir damit mitzuteilen?“ „Es ist einfach eine Idee, die ich habe“. Er lachte sich selbst aus und setzte fort: „Aber wirklich, was… was würde passieren, was sollte passieren, wie du sagst, wenn jemand ein solches Phänomen beobachten würde, wissenschaftlich unerklärlich, was sollte er machen, um ernstgenommen zu werden?“ „Er müsste es beweisen. Er müsste es vor der wissenschaftlichen Gemeinschaft beweisen“. D. hatte nicht mal eine Sekunde gebraucht, um zu antworten. Eine Filmszene kam ihm in den Sinn, aus Jurassic Park, dachte er, aber er würde seine Hand nicht ins Feuer legen, vielleicht verwechselte er sie mit einer Szene aus jener entsetzlichen Adaption von Reise um die Erde in 80 Tagen, genau die Szene, wo ein Wissenschaftler in einer vollgepackten Universitätsaula den lebendigen Pterodaktylus entschleiert, den er aus Venezuela mitgebracht hat um ihn allen zu zeigen, und der ganze Saal heult begeistert auf. Mit dieser undeutlichen Szene im Kopf stand er auf, zahlte die beiden Kaffees, verabschiedete sich schnell von D. und ging.





Zwei Tage später stieg er in den Zug Richtung Frankfurt am Main. Die Landschaft glitt ständig durch den entgegengesetzten Winkel des Fensters ab. Er fühlte sich euphorisch und erschöpft, und blickte auf jenen deutschen, durchsichtigen Frühling, der, so schien es ihm, ihm eine Verlängerung nach der anderen versprach. In jenem Moment von unverhoffter Ruhe erschien vor ihm der graue Vorhang eines Theaters, seine edle, nach innen gewandte Bewegung, seine kurvenförmige, friedvolle Entfaltung vor der Illusion der Szene. Er dachte an die gesegnete Unschuld des Siegfried, und an sein Glück oder an sein Unglück, alles lernen zu müssen von der Natur. Er versetzte sich in ihn, in die Haut jenes peinlichen Repertoire-Helden, Freund eines Bären und ununterbrochen überrascht davon, seine eigene Andersheit aus der Opposition zur Normalität seiner Umgebung herauszulesen, Siegfried, du naives Tier, begierig nach Teilnahme an einem System, das dich endgültig assimilieren und neutralisieren wird, du hättest dich mit der außergewöhnlichen Gabe zufrieden geben sollen, mit einem Waldvogel sprechen zu können, ja, mit deinem blöden und fruchtigen Tanz mit den Holzbläsern, die plötzlich zu einer menschlichen Stimme werden, verständlich und warnend, von ausschlaggebender Bedeutung für die Zukunft deiner Welt, und für dich selbst, für die Rolle, die du darin spielst, du antisemitischer, kindlicher Siegfried, versiert in der Kunst, alles so anzunehmen, wie es kommt, mehr eine durchgegangene Bestie als ein Held, völlig unkund deiner selbst. Der Vorhang schloss sich endgültig und die Szene verschwand, und er dachte, er erinnerte sich mit Bestimmtheit an den stets unheimlichen Moment, des Öfteren von einer konkreten, delikaten Musik begleitet, die präziseste, intelligenteste Musik des Werkes, dachte er, der Moment, die Fiktion zu verlassen, der Moment, an dem man realisiert, dass alles nur eine Farce war, dass alles in jenem nicht existierenden Raum passierte, der zu jedem Aufzug sich nach hinten öffnete, nur um kurz danach gänzlich zu verschwinden, so flüchtig wie die menschliche Stimme und doch irgendwie so bedeutungsvoll. Es war ein trauriger, schwieriger Moment, der Moment des Feuers, wie in Versailles im 17. Jahrhundert, dachte er, mit den Flammen, die sich ausstreckten auf dem Stoff, auf dem Holz und auf der Farbe, mit dem Geräusch der in Funken explodierenden Kulissen, Funkenstrom nach Funkenstrom auf der Szene wie das Feuer der Ähren auf den Feldern im Juni. Er erreichte Frankfurt am Main und lief gleich zum grünen Teppich, wo das Ereignis stattgefunden hatte. Er war neidisch auf Siegried. Er fragte sich, was jenen Raum hinter dem grauen Vorhang anders machte als das Ufer des Mains, wo alles genau so affirmativ und korrekt war, wo die Mitglieder der Rudergemeinschaft Sachsenhausen weiterhin ihre Wasserfahrzeuge hin und her gleiten ließen. Er legte seine Sachen auf das Gras, setzte sich hin, und wartete, geduldig, auf die Rückkehr der Amsel.


In den ersten Tagen, die allmählich länger wurden, begegnete er mit Stolz jenem stillen, bekannten Ufer. Er war so kurz abwesend wie es ihm möglich war, häufig bei Nacht, als – sagte er sich selber – die Amseln schon schliefen, um sich des größtmöglichen Erfolgs zu vergewissern. Er wich nie von der Stelle, die dieselbe Stelle war, wo er sich hingesetzt hatte an jenem langsam längst vergangenen Morgen im Mai, denn er hatte Angst, den entscheidenden Moment zu verpassen. Neben seinem Notizbuch hatte er in seiner Tasche eine Kamera mitgebracht. Sie war notwendig, dachte er, dir glaub‘ ich nicht mit dem Ohr‘, dir glaub‘ ich nur mit dem Aug‘, unsere Zeit besteht aus Bildern, sie ist an sich eine große Obsession von dem Bild, etwas zu beweisen heißt ein Bild davon zu machen, die Mitteilung in Form einer Abbildung zu überbringen, Trommelfell und Gedächtnis reichen nicht, wenn es darauf ankommt, über die Existenz der Welt Zeugnis abzulegen, es bedarf der Netzhaut. Natürlich reichte der Akku der Kamera nur wenige Tage aus, aber es ist schwierig zu sagen, ob er sich dessen jemals bewusst war. Seine volle Aufmerksamkeit war bei dem spöttischen Gesang der Amseln, den er ohne Unterlass um ihn herum wahrnahm, der abwechslungsreiche Gesang, immer länger als der irgendeines anderen Vogels, immer unvorhersehbar, lebendig und bunt wie wenige andere Ausdrücke der Natur. Amseln und mehr Amseln kamen auf ihn zu und spielten mit seiner dunklen, schmutzigen und verdorbenen Figur, und sie entfalteten ihren interessierten, provokanten Gesang auf dem immer gelberen Teppich, auf dem er weilte. Aber sie sprachen nie. Sie glotzen ihn nie an mit menschlichem Blick und machten den Schnabel auf und sprachen ihn an mit verständlichen Worten. Nie belehrten sie ihn über den Sinn des Daseins.


Monate vergingen. Sein müdes Hirn – denn er schlief nicht, oder schlief schlecht, immer mit einem offenen Auge, wie ein Tier im Dschungel oder in der afrikanischen Savanne – verlor sich immer ferner von seinem Grundstück. Immer ferner war ihm die Netzhaut und verwandter das unausstehliche Gefühl, die Ruhe am Sinn nie zu erreichen, sich dauernd daran anzunähern, sie zu berühren, und sie unwiderruflich zu verlieren einmal nach dem andern. Letztendlich, hatte er noch die Kraft zu überlegen, letztendlich konnte das, was ihn dazu gezwungen hatte, seinen Abgrund zu erkunden, sich nicht sonderbarer angefühlt haben als das, was die Unternehmer Fritz Roy und John F. Metz zusammen mit ihren Frauen Margaret und Rose Bud an jenem Juliabend 1910 erlebt hatten, als sie, wie es in einem ihm sonst in Vergessenheit geratenen Artikel hieß, den „velvety tone“ des Soprans Mariette Mazarin zum ersten Mal aus einem Grammophon hörten, die, wahrscheinlich verwirrter und desorientierter denn je, die Noten der Salome aus dem Studio des Professoren Lee de Forest, Pionier der Funkausstrahlung in den USA, in der Nähe der Grand Central Station in New York sang. Mühevoll rief er die einzige erhaltene Photographie dieses Ereignisses in Erinnerung, das primitive Schwarzweiß und die kaum hervorstechenden Figuren, wie in einem Stich, Professor de Forest stehend und konzentriert, mit rudimentären Kabelhörern auf dem Kopf, und Mariette Mazarin sitzend, mit einer ungemütlichen körperlichen Haltung, wie sie ihre Lippen nah an der eigenartigen Glocke hält, in der ihr beliebter, anerkannter Timbre eine Aufeinanderfolge von elektrischen Impulsen werden würde, die unmittelbar an das Gerät in Newark andocken und sich entfalten würden im gepolsterten, feuchten Wohnzimmer, vor den verzauberten Augen und Ohren der Anwesenden. Das, was er erlebt hatte, war nicht unbegreiflicher als Venedig, dachte er, mit seinem türkisgrauen Filter und seiner Unbeständigkeit, mit dem Fleisch seiner Straßen und dem Marmor seiner Gesichter. Der Winter kam. Und mit ihm der Moment, faszinierend und furchtbar, sich an nichts mehr zu entsinnen.


Gezeichnet: Schattenhaar

Bayreuth, Juli 2023

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